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100 Kilo Herz – „Zurück nach Hause“

Es mag das verflixte siebte Jahr sein, dass 100 Kilo Herz inzwischen als Band zusammenstehen, doch von „Beziehungskrise“ ist in 2023 ganz und gar nicht zu spüren. Im Gegenteil: die Leipziger Formation, die mit ihrer Symbiose aus rockigen Gitarren, stets nach vorn treibenden Drums und choral-arrangierten Blasinstrumenten längst ihre Nische gefunden haben, veröffentlichen am kommenden Freitag, den 01. September 2023 ihr neues Album „Zurück nach Hause„.

Während das erste Album von 100 Kilo Herz, „Weit weg von zu Hause“ (2018), Geschichten erzählte vom Aufwachsen auf dem Dorf, von Sehnsucht, vom Kampf gegen bestehende Strukturen, führte die zweite Platte „Stadt, Land, Flucht“ (2020) in die große Stadt und wurde deutlich politischer. Mit „Zurück nach Hause“ schließt sich beides zusammen, sowohl der Blick in die Vergangenheit, ins Innere, als auch ins Weltliche. Und ganz ehrlich: irgendwie macht der Weg der Leipziger absolut Sinn, wenn man bedenkt, dass sie eben erst weit weg von zu Hause waren, sich dann nicht mehr wohlgefühlt haben im eigenen Land oder dem Ort wo sie herkommen und nun den Weg zurück in ihre Heimat finden.

Doch nun genug der langen Vorspiele und husch, husch, ab ins Körbchen! Viel Spaß bei unserer Review zur neuen LP von 100 Kilo Herz!

Tracklist von „Zurück nach Hause“:

01. Lichter aus
02. Station 30
03. Eine Hölle in Pastell (feat. Amy Vialon/ Kopfecho)
04. Keine Zeit fürr Angst (feat. Nicholas Müller/ Jupiter Jones)
05. Und das nennt ihr dann Leben
06. Das richtige Wort
07. 2694 Tage
08. Ohne Worte
09. Allein leuchten
10. Spiegel
11. Brocken. Pflaster. Steine
12. Lichter an

Licht aus – Spot an!

Fast fühlt man sich mit dem neuen Album von 100 Kilo Herz in einen Theater- oder Konzertsaal versetzt, wenn es mit dem ersten Song heißt „Lichter aus„. Im Raum wird es dunkel, endlich geht der Vorhang auf und die Show beginnt – bei den Leipzigern auch ohne große Umschweife. Mit treibenden Drums und Gitarren sowie den Bläsern knallt es sofort ab Sekunde 1 richtig los. Es soll keine Gefangenen geben! Und genau das ist etwas, was mir besonders gut an 100 Kilo Herz gefällt. Kein großes Theater, sondern direkt Feuer frei. Punkig, rotzig und doch mit dem Schwall hin zu nachdenklicher, gesellschaftskritischer Rockmusik.

Pflegenotstand auf Station 30

So viel zu Gesellschaftskritik: beim zweiten Track auf der Platte, der sich „Station 30“ schimpft, geht es um um den Pflegenotstand und um das Thema häusliche Gewalt. Auch erschütternde Ereignisse, wie die Ermordung von vier behinderten Menschen in einem Potsdamer Pflegeheim, die im Frühjahr 2021 ans Licht kam, verarbeitet die Band auf der Platte. Faszinierend, wie die Leipziger das Ganze dann noch in einem Musikvideo zusammenfassen konnte.

Auf „Eine Hölle in Pastell“ haben sich 100 Kilo Herz mit einem Gast-Feature verstärkt, was man so bisher noch nicht zu hören bekommen hat. Mit Amy Vialon von Kopfecho hat es endlich eine weibliche Stimme auf eine LP der Leipziger geschafft. In unserem Interview mit Rodi und Marco geben die beiden noch mehr bekannt, wieso und wie es zu dem Feature gekommen ist. Haltet von daher die Augen und Ohren offen, denn das Interview wird noch in dieser Woche auf unserer Website zu finden sein.

Klare Kante gegen „Rechts“

Der Titel Keine Zeit für Angst, zu welchem die Band Nicholas Müller von Jupiter Jones mit ins Boot geholt hat, orientiert sich an aktuellen Ereignissen, beschreibt die Wut über das neuerliche Erstarken der rechten Szene in Deutschland. Fassungslosigkeit über rechte Parolen in Parlamenten und scheinbar „normale Bürger:innen“, die auf der Straße den Zusammenschluss mit Nazis tolerieren. Der Song ist eine Kampfansage an herrschende Zustände und verlangt Mut und Empörung, um sich dem entgegenzustellen. Gerade der Refrain hat es mir besonders angetan, denn das könnte die deutliche Kampfansage auf jedem Konzert der sechs Musiker werden:

Ich möchte endlich Wut
Ich will ein lautes Schreien
Wenn Sie Ihre Lügen brüllen
Müssen wir noch viel lauter sein

Und das nennt ihr dann Leben?

Habt ihr euch schon einmal diese Frage gestellt? Habt ihr euch auch schon mal gefragt, ob es das sein kann, was ihr Leben nennt? Genau diese Frage versuchen die Leipziger auf ihrer nächsten Rock-/ Punk-Hymne zu beantworten, oder besser gesagt euch diesen Satz in euren Kopf zu brennen, bis ihr dann irgendwann selbst eine Antwort auf diese Frage findet. Die Zeilen werden so häufig wiederholt, dass man am Ende des Songs auf seinem Stühlchen sitzt und wirklich effektiv mal darüber nachdenkt. Eine tolle Art und Weise, wenn ihr mich fragt.

Das richtige Wort

Nicht die Stimme der Opfer möchten die Musiker sein, doch aber ein Sprachrohr, wenn sie „Das richtige Wort“ verlangen und über die Musik ihre Wut und Betroffenheit ausdrücken – vor allem darüber, dass dies keineswegs ein trauriger Einzelfall war, sondern vielmehr ein dunkler Fleck in der Struktur ist, der immer wieder verschwiegen und abgetan wird. Ein ums andere Mal beweisen 100 Kilo Herz, dass man auch heute noch mit dem richtigen Instrumental und den passenden Zeilen die Menschen bewegen kann, sich damit auseinander zu setzen, was in unserem Land schief geht.

Abschied

Die zweite Hälfte von „Zurück nach Hause“ beschäftigt sich laut Sänger Rodi mit persönlicheren Geschichten. Wir richten den Blick auf das, was in uns und anderen vorgeht. Nicht immer sind es unsere eigenen Erlebnisse, die wir in den Songs verarbeiten, doch sie alle haben eine gewisse Emotionalität gemeinsam.“ So auch im Song „2694 Tage„, bei dem es um den Abschied eines treuen Freundes geht, von Erinnerungen und von Verlust. Leute ganz ehrlich, jeder der nach oder in diesem Lied keine Träne verdrücken muss, den halte ich für Gefühlstot. Egal, ob man an einen Menschen denken muss oder wie im Lied an eine Fell-Nase, kann einen das nicht kalt lassen. Ich danke an dieser Stelle, auch wenn ich es in dem Interview schon mehrfach getan habe, den sechs Musikern aus Leipzig, denn ich werde dieses Lied in Ehren tragen und vor allem dann hören, wenn ich mal wieder an die vielen schönen Erinnerungen denken möchte.

Sprachlos in Leipzig

Ihr habt richtig gelesen: auch „Ohne Worte“ dürfen wir die Jungs von 100 Kilo Herz mal erleben. Nein, ganz so ist es nicht! Rodi erzählte in unserem Interview von einem kleinen Liebeslied und nach mehrmaligen Hören bin ich mir nun sicher, dass es beim Track „Ohne Worte“ um genau eben dieses geht. Nicht nur an den nachfolgenden Zeilen, lässt es sich erhaschen, auch am ganzen Soundgewand von diesem Stück.

„Bleib bitte diese eine Nacht
Bleib bitte diese eine Nacht
Bleib bitte diese eine Nacht
Bleib bitte diese eine Nacht
Bis zum Morgen mit mir wach“

Und wer hat nach diesem Stück nicht auch Lust mit den Leipzigern sich die nächste Nacht um die Ohren zu schlagen? Ja, seit ihr dabei? Dann lasst euch die kommende Tour auf gar keinen Fall entgehen.

Alleine leuchten“ drückt das Zusammenspiel des Miteinanders aus, der gesunden Abhängigkeit sowie des Strahlens aus sich selbst heraus. Dies ist wohl die Hymne für das eigene Ich und eben seinem eigenen Wertgefühl mal auf den Zahn zu fühlen. Das ist wie beim Zahnarzt: einmal Bleeching, diesen Song auf die Ohren und schon fühlt man sich direkt besser und vor allen Dingen, sind die Zähne wieder weiß. Scherz bei Seite.

Konfrontation mit dem eigenen „Ich“

Anders als im vorherigen Song, widmet sich „Spiegel“ der unverblümten Selbstaufgabe und das Sich-selbst-Verlieren. Treibende Drums und fast schon fanfarenartige Tongebilde verleihen Nachdruck und machen dieses halbgare Leben, in welchem es sich immer mehr um die Wünsche der anderen dreht, als um die eigenen, greifbar. Bei diesem Track handelt es sich um die letzte Vorabveröffentlichung, die das Album nicht passender hätte darstellen können. Ich bin abermals entzückt darüber, wie leicht es 100 Kilo Herz scheinbar fällt, solche Texte in einem tollen Soundgewand zur Darstellung bringen.

„Kein Mensch der dich sieht
Niemand der bei dir ist
Mehr als eine Dekade
Ein Leben als Spiegel“

Brocken. Pflaster. Steine

Das vorletzte Gemälde auf der Platte trägt den Namen „Brocken. Pflaster. Steine“ und könnte durchaus sehr gut zu dem Sprichwort „Wer im Glashaus sitzt sollte nicht mit Steinen werfen“ passen. Um auf die Bläser mal einzugehen, findet sich hier ein wahnsinnig cooles Solo darin, wo man fast denken könnte, dass es sich gar nicht um Bläser, sondern um eine Flöte handelt. Auch so etwas habe ich bis dato noch nicht von den Leipzigern gehört. Lyrisch müsste ich eventuell nochmal zurück rudern und eventuell zugeben, dass es sich vielleicht auch hierbei um das von Rodi angekündigte Liebeslied handelt. Da er es in unserem Interview nicht verraten hat (kleiner Spoiler!!!), so bleibt es bei euch zu entscheiden, welches nun das „wahre Liebeslied“ ist.

Ohne an Eindringlichkeit zu verlieren, schließt die Band mit dem Song „Lichter an“ das Album, der die Hörerschaft auch thematisch nicht von der Angel lässt und Raum für eigene Interpretationen lässt. „Das Feuer, das brannte Tag für Tag, ein Stück verglüht“, der Vorhang geht zu, der Saal leert sich, die Show ist vorbei. Genau wie die LP der sechs Musiker!

Fazit:

Euch ging es bestimmt schon einmal so wie mir: ihr hört einen Song und die Texte sowie die Melodien bleiben euch im Kopf bis zum Sankt Nimmerleinstag. Genau so ergeht es mir beim Hören der Songs von 100 Kilo Herz. Dank der Texte und Hintergründe wird es auch nie langweilig, sondern man bekommt immer wieder Denkanstöße mit auf den Weg. Ein klares Pro für die Band und die Musik, die sie machen!

Durchaus hätte die Platte auch als Sommer-Veröffentlichung über den Tisch gehen können, das liegt aber vermehrt an dem Ska-Punk-Melodien und weniger an den lyrischen, gesellschaftskritischen Themen. „Zurück nach Hause“ ist die logische Fortführung von ihrer vorherigen Scheibe „Stadt, Land, Flucht„, doch mit Beendigung der Reise bleibt nun abzuwarten, wie 100 Kilo Herz das nächste Kapitel angehen werden. Ich bin gespannt!

Rating:

Auf ihrem Weg „Zurück nach Hause“ lassen 100 Kilo Herz kaum Wünsche über, die sie nicht erfüllen können und erhalten daher mit 9 von 10 Punkten, fast die Maximalausbeute. Ein wenig Luft nach oben möchte ich den Musikern noch auf den Weg geben, damit sie mich das nächste Mal noch mehr umhauen, als sie es nicht sowieso schon getan haben!

Info
29. August 2023 
14:19 Uhr
Band
100 Kilo Herz
Genre
Punk Rock
Autor/en

 Seb

Fotocredit/s
Pressefoto
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